#0205 Thermometersiedlung

Ein überaus idyllisches Brennpunktviertel

Was, hier? Brennpunkt? Echt, diese Siedlung? Das und noch mehr. Es heißt oft, dass solche Plattenbausiedlungen Rapper hervorbringen. Hier kommen gleich drei her. Wenn ich mich in der kleinen Thermometersiedlung so umschaue, glaube ich kaum, was da alles drinsteckt. Unsere Großwohnsiedlungen sind eben alles andere als langweiliger Plattenbau. Begleite mich dieses Mal nach Berlin – Lichterfelde Süd!

Zeichnung der Stadtkönigin, die vor einem Gemälde an einer Hauswand in der Thermometersiedlung steht
Ein solches Gemälde befindet sich an einem Haus in der Thermometersiedlung. Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, wer das Original gemalt hat.

Die Thermometersiedlung sticht hervor

Nicht nur dadurch, dass sie in eine Viel-mit-Einfamilienhäusern-Stadtrandidylle gepflanzt wurde, das kommt ja ziemlich häufig vor. Aber wo an den Stadtrand, das ist das Auffällige. Denn der Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist der bestbetuchte Bezirk Berlins. Ist die Thermometersiedlung dann eine Edelplattenbausiedlung? Mag auf den ersten Eindruck ja auch irgendwie so aussehen. Sie wirkt durchaus sauber, die Gebäude, die nicht farbig sind, strahlen weiß im Sonnenlicht. Immer wieder hat man hohe Wohntürme, die weithin sichtbar sind, mit schicken filigranen blau-grauen Querstreifen.

Schnell merke ich, dass die blauen Streifen das Gesicht dieser Siedlung sind. Sie haben Wiedererkennungswert. Stellen sie etwa Thermometer dar oder erinnern an die Anzeige mit Millimetereinteilung auf Thermometern? Heißt die Siedlung etwa so, weil wirklich jemand fand, die Häuser sähen wie Thermometer aus? Fänd ich witzig. Aber die Erklärung für den Namen der Plattenbausiedlung ist weitaus banaler. Die Idee kommt mit der Siedlung vom Reißbrett.

Réaumur, Mercator, Celsius und Fahrenheit

Nach diesen Herren sind die vier Straßen benannt, die das Viertel durchziehen. Es war also alles geplante Sache, nicht etwa so wie beim Salvador-Allende-Viertel, das aufgrund eines historischen Ereignisses um den chilenischen Präsidenten 1973 seinen Namen erhielt.

Die vier berühmten Herren haben vor mehreren Jahrhunderten gelebt und Meilensteine der Wissenschaft errungen. René-Antoine Ferchault de Réaumur: Natur- und Materialforscher, der unter anderem ein Gerät zur Temperaturmessung erfand. Sprich, ein Thermometer. Du ahnst, worauf es hinauslaufen wird. Dass Anders Celsius auch mit Thermometern zu tun hatte, ist uns klar. Schließlich heißt die Maßeinheit, mit der wir präzise übers Wetter zu meckern vermögen, Grad Celsius.

Auch der Name Fahrenheit ist dir bestimmt noch aus der Schule ein Begriff. Auch eine Maßeinheit zur Temperaturmessung, entwickelt von dem Physiker Daniel Gabriel Fahrenheit. Der ebenfalls Thermometer entwickelte. In den USA wird die Temperatur sogar mit Fahrenheit angegeben. Der Einzige, der keine Thermometer entwickelte, war Gerardus Mercator. Er war Kartograf und entwickelte Globusse der Erde und des Himmels. Seltsamerweise fehlt auch eine Straße für Kelvin. Doch befassen wir uns jetzt nicht mit Spitzfindigkeiten, sehen wir uns erst mal das Viertel an!

Foto eines Hochhauses in der Berliner Thermometersiedlung mit blauen Querstreifen
Blaue Querstreifen – noch heute so modern wie in den 70ern

Trügt die Idylle in der Thermometersiedlung?

Idyllisch ist es wirklich, fast etwas verschlafen wirkt die Großwohnsiedlung auf den ersten Blick. Pizzabäcker, Supermarkt, Asia-Restaurant. Viele Spiel- und Sportplätze, Kitas, Grundschule und ein Teich, in dem sich die hohen Häuser mit den blauen Streifen spiegeln. Und in dem sich jemand seines Cityrollers entledigt hat, der nun zwischen Schilf und Enten emporragt wie die Titanic kurz vor ihrem endgültigen Untergang. Ich verstehe nicht, warum man überall in Berlin Roller ins Wasser schmeißen muss.

Der Teich ist ein Auffangbecken und umzäunt; ich habe bisher noch keinen Zugang gefunden, keine Wiese, auf die man sich an das Becken setzen könnte. Vielleicht sind Dinge wie der Roller und eine vermüllte Ecke auf einer Aussichtsplattform am Becken der Grund. Vielleicht ist es hier doch nicht so idyllisch, wie es auf den ersten Blick aussieht?

Dazu schauen wir uns ein paar Fakten an: Die Thermometersiedlung ist keine Edelplattenbausiedlung. Nein, auch wenn Steglitz-Zehlendorf draufsteht, leben hier viele Menschen in Armut. Es gibt eine Kleiderkammer und Tafeln, die rege besucht werden. Viele Menschen leben hier von Transferleistungen und besonders Kinder sind im hohen Maße von Armut betroffen.

Die Zeit der Jugendgangs scheint vorbei

Doch es gab sie. Früher zumindest. Überraschenderweise brachte die Thermometersiedlung Rapper hervor. Sie heißen Fler, Samra und Jalil. Alle drei stehen oder standen irgendwann mal in enger Verbindung zum berühmt-berüchtigten Musiklabel Aggro Berlin. Ich gebe zu, das ist Musik, die ich mir nicht anhöre. Außer jetzt zu Recherchezwecken. Da finde ich einen Song, sogar gleich von zweien der Rapper in Kooperation. 45 von Jalil x Samra. Das Setting im Musikvideo kommt mir allzu bekannt vor: Die Thermometersiedlung, in Schwarz-Weiß gehalten. Schlüpperblaue Streifen wirken eben nicht ganz so gangsterhaft. Die Zeilen des Liedes machen deutlich, dass es in dem Viertel ziemlich kriminell zugehen kann – oder konnte.

Foto aus der Thermometersiedlung in Berlin Lichterfelde Süd

Mein Eindruck ist immer noch der, dass es ruhig ist und bis auf ein paar kleine Ecken ziemlich sauber. Wie alle Großwohnsiedlungen wurde auch diese erbaut, um die Wohnungsnot in den 70er-Jahren zu mildern. Wie bei den meisten anderen Siedlungen war alles schön gedacht und entwickelte sich dann zu einem Problemviertel. Sogar zu einem Brennpunkt, nichts anderes bezeugen die Texte der Rapper, in denen es viel um Gewalt und Drogen geht.

Den Eindruck bekomme ich 2021 nicht mehr. In aktuelleren Dokumentationen heißt es, dass Gewalt und Jugendkriminalität nicht mehr das Problem seien. Die Armut ist es noch immer, und sie steht stark im Vordergrund. In diesem Bericht von der Abendschau aus dem Jahr 2018 werden viele Menschen interviewt, die das bestätigen. Auch über eine gewisse Trostlosigkeit und einen Mangel an kulturellem Angebot wird berichtet. Damals hatte die Thermometersiedlung noch kein Quartiersmanagement. Das hat sich im Jahr 2021 geändert. Anfang des Jahres wurde ein Quartiersmanagement für die Thermometersiedlung eingesetzt.

Die Zukunft und eine neue Siedlung

Wir haben Herbst 2021 und mein Eindruck ist, dass eine schöne Zukunft für die Thermometersiedlung durchaus möglich ist. Auf meinem Streifzug sind mir freundliche und hilfsbereite Passanten begegnet und die Gegend ist verkehrstechnisch sehr ruhig. Ich fühle mich auch nicht beengt durch dichte Bebauung, hier ist viel Grün. Auf der Seite des neuen Quartiersmanagements der Thermometersiedlung sind die Chancen und Probleme, die die Siedlung hat, aufgeführt. Zu den Chancen zählt, dass es bereits jetzt etliche Träger gibt, die die Bewohner*innen unterstützen.

Auch infrastrukturell bietet die Thermometersiedlung bereits einiges, das momentan ungenutzt ist und teilweise verwahrlost. In Kooperation mit bereits bestehenden Strukturen und der Anwohner*innen sollen die Angebote erweitert werden, speziell für Kinder, Familien und Senioren.

Foto eines Plattenbaus in der Berliner Thermometersiedlung

Die Thermometersiedlung ist an die S-Bahn und mehrere Buslinien angebunden. In der nahen Umgebung befinden sich weitere Siedlungen und Einfamilienhäuser. Bald werden die Bewohner*innen noch mehr Gesellschaft bekommen: Direkt neben der Thermometersiedlung befindet sich ein ehemaliger Truppenübungsplatz. Auf diesem Gebiet wird eine völlig neue Siedlung mit ca. 2500 Wohneinheiten entstehen, die Neulichterfelde genannt wird. Berlin wächst. Ist das nicht spannend? Hier kannst du sehen, was auf diesem Areal entstehen wird. Na? Habe ich zu viel versprochen?

Und es wird noch besser für die Thermometersiedlung: Das Quartiersmanagement bezieht die Entstehung von Neulichterfelde mit ein und möchte von Anfang an dafür sorgen, dass die beiden Siedlungen zusammenkommen. Ich finde das irgendwie rührend, du nicht auch? Auf jeden Fall passiert da was am Berliner Stadtrand.

Nächstes Mal geht es wieder in den Osten Berlins. Ich weiß noch nicht genau, wohin, vielleicht ins Sewanviertel, wo wir uns die ganze Palette an DDR-Plattenbautypen ansehen. Jetzt ist aber erst mal Weihnachten und Jahreswechsel. Ich wünsche dir ein schönes Fest! Trotz all des Corona-Gedöns. Aber sehen wir nicht an der Thermometersiedlung, dass man aus Schwierigkeiten …? Ja, ich weiß, es reicht. *grins*

Übrigens, kleiner Tipp: Mach einen Kiezspaziergang, die weihnachtlich geschmückten Fenster und Balkone sehen wunderschön aus! Frohes Fest und einen guten Start ins Jahr 2022! (In 200 Jahren ist das voll die Schnapszahl. Kommt auch nur alle 1111 Jahre vor.)

P.S.: Nein, es geht nächstes Mal mit Marzahn weiter.

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